Heide, 27.08.2012 - Jarno ist ein ganz normaler, fröhlicher Säugling. Er krabbelt herum, zeigt stolz lächelnd seine erste Zähne und ist neugierig auf die Welt. Und es macht ihm ganz offensichtlich nichts aus, einmal die Woche zwanzig Minuten lang akribisch beobachtet zu werden. In einer Therapiegruppe für Kinder und Jugendliche ist er nämlich der Star. Zwölf überwiegend faszinierte Teilnehmer und zwei Therapeutinnen sitzen im Halbkreis auf dem Boden um Mutter und Kind. Sie beobachten, kommentieren und bewerten jede Bewegung, jede Reaktion und jeden Gefühlsausbruch des elfmonatigen Babys.
Die ungewöhnliche Therapieform nennt sich „Babywatching“, ist jedoch im Watt’n’Huus, der Heider Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, in „Kindskieken“ umgetauft worden. Mentorin Indra Benz hat die plattdeutsche Bezeichnung in Anlehnung an die alte Dithmarscher Tradition gewählt, Babys aus der Nachbarschaft kurz nach der Geburt zu „bekieken“. In der Therapieeinrichtung geht es jedoch längst nicht nur ums einfache Betrachten des Kleinkinds.
„Unsere jungen Patienten leiden unter vielfältigen seelischen Sorgen und Problemen, die oft mit Ängsten oder Aggressionen einhergehen. Die Beobachtung des Babys hilft ihnen nachweislich, ruhiger zu werden und den Anderen als eigenständiges, wachsendes und fühlendes Wesen wahrzunehmen“, erläutert Indra Benz.
Tatsächlich machen die Kinder und Jugendlichen erstaunlich konzentriert mit. Vorsichtig leiten die beiden Therapeutinnen von der reinen Beobachtung zur Analyse über. „Wie fühlt sich Jarno? Wie äußert er seine Gefühle? Wie würdest Du Dich fühlen?“, fragt Co-Therapeutin Michaela Schulz. Die erfahrenen Teilnehmer der Gruppe wissen, dass mehr als ein einfaches „gut“ oder „fröhlich“ erwartet wird. Es folgen Begründungen – und ganz unwillkürlich wird die eigene Person, in Abgrenzung zum Kleinkind unbewusst mit einbezogen.
Für Jarno Peer Zielke und seine Mutter Jana ist das jedoch die letzte Sitzung in dieser Therapiegruppe. Denn: Der Junge ist einfach zu groß und zu neugierig geworden. Er krabbelt immer mehr zu den umsitzenden jungen Leuten, bezieht sie in sein Spiel mit ein – und genau das wird nicht gewünscht. Die Patienten sollen nicht mit dem Kind spielen, sie sollen es vor allem als eigenständiges und verletzliches Wesen wahrnehmen.
Auf Jana Zielke, selbst Erzieherin und nur noch kurze Zeit in Mutterschaftsurlaub, kommt jetzt eine neue Zeit zu, ohne die wöchentlichen Therapiestunden und ohne die Gruppe im Nebengebäude des Westküstenklinikums. Doch für „Nachschub“ ist bereits gesorgt: Co-Therapeutin Michaela Schulz erwartet selbst ein Kind und hat sich angeboten, einige Wochen nach der Entbindung zurück in die Therapiegruppe zu kommen – diesmal jedoch als „Darstellerin“. So können das therapeutische Angebot gewahrt und eine gewisse Kontinutität gewährleistet werden.
Die Idee für die Therapieform des Babywatchings wurde bereits vor einiger Zeit geboren und von Chefarzt Dr. Dirk Stilke unterstützt. In der Folge ließ sich die Kinderkrankenschwester Indra Benz zur Mentorin ausbilden und leitet seitdem die Gruppe, in der Kinder im Vorschulalter, aber auch Jugendliche bis zu 16 Jahren zu finden sind. Das Konzept geht auf die Studien des amerikanischen Kinderanalytikers Henry Parens zur Vorbeugung von aggressiven Verhaltensstörungen zurück. Der Münchner Bindungsforscher PD Dr. Karl Heinz Brisch entwickelte daraus ein Präventionsprojekt, dass in seinen Grundgedanken jetzt auch in Heide angewandt wird.
28.08.2012